Filmszene: »Warum hat er denn jetzt gehalten? Was ist jetzt wieder los? – Liebe Bürger, bitte beunruhigen Sie sich nicht! Das ist ein Sondereinsatz des FSB. Herr Petrow wird zum Ausgang gebeten.«
Von einem angeblichen Geheimdienstagenten aus dem Bus gezerrt, findet sich Comiczeichner Petrow plötzlich zwischen zwielichtigen Gestalten auf einer wodkavernebelten Fahrt durch eine dunkle russische Stadt wieder. Den Film » Petrov’s Flu – Petrow hat Fieber«, der gerade in den deutschen Kinos angelaufen ist, hat der russische Regisseur Kirill Serebrennikow gedreht – bevor er im Frühjahr 2022 ins Exil nach Berlin gegangen ist. Bei einem Treffen in der Hauptstadt erzählt er uns, warum ihn noch andere Gründe als der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zur Ausreise bewegt haben.
Kirill Serebrennikow, Regisseur:
»Ich erinnere mich nicht gern zurück an mein Leben vor drei oder vier Jahren. Es war damals sehr dramatisch, schmerzhaft und hart.«
Serebrennikow ist wohl der bekannteste kulturelle Dissident Russlands, ein Star der internationalen Kunstszene. Zehn Jahre leitete er das Gogol-Center von Moskau, das führende Avantgardetheater des Landes. Seine Homosexualität versteckte er in dem homophoben Staat nie.
Im Jahr 2017 bekommt er die Härte des Regimes mit voller Wucht zu spüren: Während Dreharbeiten in Moskau wird Kirill Serebrennikow festgenommen, mutmaßlich wegen seiner deutlichen Kritik an der Regierung. Die russische Staatsanwaltschaft wirft dem Regisseur in einem fingierten Prozess die angebliche Veruntreuung von Fördergeldern vor.
Kirill Serebrennikow, Regisseur:
»Sie haben mich unter Druck gesetzt, damit ich nichts mehr sage. Sie wollten dieses Theater verbieten. Die Staatsmacht will die Art von Kultur, die ich mache, abschaffen. Es geht nicht nur um mich, sondern um viele Leute, die diese freie Kultur erschaffen. Für das Regime ist Angst sehr wichtig, sie hält es zusammen. Ohne Angst haben die Menschen in ihren Augen zu viel Freiheit.«
Der Regisseur wird zunächst unter Hausarrest gesetzt, ihm wird eine elektronische Fußfessel angelegt. 2020 wird Serebrennikow zu einer dreijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Ende März 2022, sein Reiseverbot war gerade aufgehoben worden, verlässt der Künstler Russland. In seiner neuen Wahlheimat Berlin fühlt er sich wieder frei. Angst vor Repressalien durch das russische Regime habe er nicht, sagt er.
In seinem Studio probt er aktuell für ein Musiktheaterstück, ab Mai wird es im Hamburger Thalia Theater zu sehen sein. Die Möglichkeit, so viel zu arbeiten, gibt ihm Hoffnung und neue Energie.
Kirill Serebrennikow, Regisseur:
»Sie formt dein Rückgrat und verleiht dir Muskeln. Sie zwingt dich, nicht für immer abzurutschen. Sie gibt dir einen Sinn, ein Ziel und einen Antrieb. Arbeit macht dich lebendig. Und wir brauchen eine Menge Kraft, um dieses schreckliche Chaos zu überwinden.«
Diese Freiheit hatte Serebrennikow nicht, als er den Film »Petrow hat Fieber« in Moskau drehte. Zu der Zeit kämpfte er mit der russischen Justiz.
Kirill Serebrennikow, Regisseur:
»Wir drehten den Film vor allem nachts zwischen diesem ganzen Gerichtschaos. Tagsüber musste ich den Autoritäten dumme Fragen beantworten. Das Team schlief tagsüber, ich schlief im Gerichtssaal, und wir arbeiteten nachts. Deshalb spielen auch fast alle Szenen in der Nacht.«
Geisteskrank und surreal – die Grundstimmung seines Films sei sehr nah dran an der Wirklichkeit im heutigen Russland, erzählt uns der Regisseur. Den Filmhelden Petrow plagt eine fiebrige Grippe, und so weiß er nie, ob er all das nur halluziniert oder tatsächlich erlebt. Für Kirill Serebrennikow leidet die russische Gesellschaft an einer im Unterbewusstsein schwelenden Gewaltbereitschaft. In seinem Film transportiert er diesen Gedanken in Gestalt von Petrows Frau Petrowa. Sie arbeitet in einer Bibliothek und stellt sich immer wieder vor, wie sie gewalttätig gewordene Männer zur Strecke bringt.
Filmszene: »Darf ich die nehmen? Das Blut muss vom Parkett gewischt werden. Mir wird übel davon. – Haben Sie mal geboxt? – Ach was, das habe ich mal im Kino gesehen. Es hat nur zufällig funktioniert.«
Kirill Serebrennikow, Regisseur:
»All diese Gewalt ist wahrscheinlich das Ergebnis von Kindheitstraumata, von all dem, was in den Familien in den letzten Jahren in Russland passiert ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass man nicht plötzlich mit einem Krieg beginnt. Er ist immer ein Ergebnis von großen Spannungen und spürbarem Druck, der dich von innen zerstört. Und dann muss man irgendwie einen Ausweg finden.«
Im Film findet Petrow diesen Ausweg dank der Kunst. Aus dem Wahnsinn flüchten der fiebernde Held und seine Nachbarn in die Poesie und gemeinsames Singen.
Filmszene: »Langsame Wale verlassen ihre Gestade. Denn sie sind überall zu Hause. Man sagt ihnen, sie sollen sich vor Sandbänken, Bojen und Netzen hüten. Doch sie sagen: Das juckt uns nicht.«
Aus Russland zu fliehen – das hätte auch Kirill Serebrennikow nicht ohne Hilfe geschafft. Reiche Menschen hätten seine Prozesskosten übernommen, darunter der Oligarch Roman Abramowitsch, dem ein vorsichtig loyales Verhältnis zu Wladimir Putin nachgesagt wurde. Serebrennikow hatte bei den Filmfestspielen in Cannes 2022 für heftige Diskussionen gesorgt, weil er die Aufhebung von Sanktionen gegen Abramowitsch gefordert hatte.
Kirill Serebrennikow, Regisseur:
»Er hat mir Geld für diesen Film gegeben, er hat dieses unabhängige Projekt unterstützt. Er wurde ohne staatliche Gelder des Kulturministeriums gedreht. Dieses private Geld kam also von Abramowitsch und anderen Leuten.«
Aus seinem Büro im Moskauer Gogol-Center hat der Starregisseur geliebte Kunstwerke nach Berlin mitgebracht, darunter diese mexikanisch wirkenden Totenschädel, die aber die 15 ehemaligen Sowjetstaaten repräsentieren. Serebrennikow sammelt in seinem Studio Objekte aus verschiedensten Ländern, bewusst setzt er sie für seine Theaterprojekte ein – in Abgrenzung zur gleichmachenden, vom russischen Staat verordneten Kultur. Mit »Petrow hat Fieber« will er seinen Zuschauerinnen und Zuschauern das russische Wesen und die Gründe des Kriegs erklären – obwohl der Film lange vor dem Einmarsch in die Ukraine entstanden ist.
Kirill Serebrennikow, Regisseur:
»Dieser Krieg ist Selbstmord. Es ist nicht nur eine Invasion gegen die Ukraine. Es ist ein Selbstmordkrieg, weil Russland sich selbst zerstört. Den Staat, den ich kannte, und das Land, in dem ich aufgewachsen bin, das gibt es leider nicht mehr. Es ist zu etwas anderem geworden.«