Konservierung in Auschwitz »Jeder Schuh erzählt eine Geschichte«
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Er berührt die Schuhe auf besonders behutsame Art. Jeden einzelnen. Respektvoll, aber auch mit professionellem Blick. Andrzej Jastrzębiowski ist Konservator. Er arbeitet in den Laboren der Gedenkstätte Auschwitz. Ein Team von Spezialisten kümmert sich hier akribisch um die Erhaltung all der Dinge, die von der Todesfabrik geblieben sind. Sie kämpfen gegen die Zeit, denn alles hier ist von Zerfall bedroht.
Dieser Film zeigt, mit wie viel Aufwand und Mühe die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Tag für Tag, Schuh für Schuh das Gedenken an den Holocaust bewahren. Eine herausfordernde Aufgabe, denn der Arbeitsweg führt tagtäglich ins ehemalige Konzentrationslager. Für Jastrzębiowski und die anderen entsteht bei der Arbeit eine tiefe Verbundenheit mit den Opfern.
Die Schuhe, die er gerade bearbeitet, gehörten einer Frau.
Andrzej Jastrzębiowski, Konservator Gedenkstätte Auschwitz:
»Die Schuhe sind ein Beispiel für Gegenstände, die sehr, sehr persönlich sind, denn sie sind direkt mit den Opfern verbunden. Diese Schuhe gehörten den Opfern. Jeder Schuh kann uns eine Geschichte erzählen – die Geschichte seines Besitzers.«
Es ist nur einer von ungefähr 110.000 Schuhen in Auschwitz. Die meisten findet man in der Ausstellung. Die Schuhe machen das Ausmaß der Mordmaschinerie greifbarer – Schuhe hat jeder, über sie fällt die Identifikation mit den Opfern leichter. Dabei sind selbst diese Berge nur ein Bruchteil der Schuhe der mindestens 1,1 Millionen Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden. Besonders schwer zu ertragen ist der Anblick der circa 8000 winzigen Kinderschuhe. Auch sie zerbröckeln immer mehr. Das Konservierungsteam will sie unbedingt erhalten – nicht nur aus symbolischen Gründen. Sie erinnern an den Mord von über 200.000 Kindern und Jugendlichen in Auschwitz. Jeder einzelne Schuh ist ein Beweis für Kriegsverbrechen.
Ebenso wie die Koffer, in denen die Menschen, die nach Auschwitz deportiert wurden, ihre Habseligkeiten mitbrachten. Dachten sie doch, man würde sie nur umsiedeln. Das Gepäck wurde direkt bei der Ankunft an der Rampe beschlagnahmt. Auch diese Menge ist überwältigend und doch nur ein Teil. Viele weitere Koffer befinden sich im Lager.
Magdalena Emilewicz-Pióro, Mitarbeiterin der Sammlungen Gedenkstätte Auschwitz:
»Wir kommen tagtäglich in den Lagerbereich. Wir betreten jeden einzelnen Raum täglich, um die Temperatur und Feuchtigkeit zu überprüfen. Die Lagerung ist eigentlich das größte Problem, wenn es um den Zerfall dieser Gegenstände geht. Denn die Menge der Objekte in diesen Sammlungen ist immens. Wir sind nicht in der Lage, jedes einzelne Objekt zu konservieren. Deshalb haben wir dieses moderne Lagersystem, das es uns ermöglicht, den Prozess der Zerstörung zu verlangsamen.«
Marta Świętoń wird einen Monat lang an diesem einen Koffer arbeiten. Schon während ihres Studiums hat sich die Konservatorin auf die Erhaltung von Papier spezialisiert. Der größte Teil aller Koffer in Auschwitz besteht aus Pappe und Zellstoff oder Vulkanfiber.
Marta Świętoń, Konservatorin Gedenkstätte Auschwitz:
»Ich habe mit diesem Koffer gerade eben angefangen. Der erste Schritt besteht darin, den Staub zu entfernen, der sich auf der Oberfläche, auf der Innenseite und auf der Außenseite befindet. Und wenn ich damit fertig bin, werde ich mich an die Entfernung alter Lacke von früheren Konservierungen machen. Später entferne ich den aktiven Rost auf den Metallelementen und bringe dann eine Schutzschicht auf die Metallelemente auf.
Und wenn man sich die Objekte anschaut, sieht man, dass sich nichts wirklich verändert hat. Das ist etwas, was wir hier immer versuchen. Wir versuchen, die Dinge zu erhalten, aber so, dass sich ihr Aussehen nicht wirklich verändert. Wir versuchen nicht, sie zu reparieren.«
Nichts verschönern, nichts reparieren. Das Authentische erhalten – so die Philosophie. Die Spuren der Zerstörung, der Vernichtung gehören untrennbar zu den Gegenständen dazu. Sie erzählen von dem Schicksal ihrer Besitzer.
Marta Świętoń, Konservatorin Gedenkstätte Auschwitz:
»Besonders anschaulich wird es, wenn man auf eine Art von Inschrift auf der Oberfläche stößt oder auf eine Art von Information, dass der Koffer jemandem gehört hat. Denn jede Inschrift ist wie ein Beweis dafür, dass eine Person dahinterstand. Ein lebendiger Beweis, dass es sich um das Eigentum dieser Person handelt. Wenn wir diese Art von Informationen auf dem Koffer finden, überprüfen wir in der Datenbank, zu wem er gehört und ob es Informationen über die Person gibt.«
Die Entdeckung von Einzelschicksalen inmitten der Anonymität der vielen Opfer gleicht angesichts der unvorstellbaren Menge der Exponate jedes Mal einer kleinen Sensation.
Hanna Kubik, Mitarbeiterin der Sammlungen Gedenkstätte Auschwitz:
»Manchmal stoßen wir bei unseren Restaurierungsarbeiten auf bisher unentdeckte Hinweise, die von ihren Besitzern hinterlassen wurden. Ein solches Beispiel ist dieser Schuh, der einem kleinen Mädchen gehörte: Vera Vohryzek. Im Inneren des Schuhs kann man den Vor- und Nachnamen des Mädchens sehen, die Nummer des Transports und die Nummer, unter der sie als Gefangene registriert war. Manchmal kommt es vor, dass die Spuren in den Schuhen gut lesbar sind. Mithilfe unseres Archivs können wir die persönliche Geschichte kennenlernen. Das kleine Mädchen wurde in der Tschechischen Republik im Januar 1939 geboren und wurde als dreijähriges Kind zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Mutter ins Ghetto Theresienstadt geschickt. Nach etwa sechs Monaten im Ghetto wurden sie nach Auschwitz deportiert. Wahrscheinlich sind Vera, ihr Bruder und ihre Mutter in einer Gaskammer umgekommen. Während unserer Untersuchung konnten wir feststellen, dass der Vater des Mädchens ebenfalls im Lager umgekommen ist: Max Vohryzek.«
Das Foto von Veras Vater, das während seiner Registrierung im Lager aufgenommen wurde, befindet sich im Archiv, ebenso seine Sterbeurkunde. Die Recherche beweist beispielhaft die Auslöschung einer ganzen Familie – auch der Onkel der kleinen Vera wurde nach Auschwitz deportiert. Man fand seinen Koffer.
Wie bewahrt man das Gedenken an den Holocaust an dem Ort des Völkermords?
Die riesigen Mengen der Besitztümer der Opfer wurden nach der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 gefunden, und obwohl das mittlerweile 78 Jahre her ist, ist die Sammlung immer noch offen. Immer noch kommen Dinge aus privatem Besitz als Spende oder Nachlass in die Gedenkstätte. Es sind die persönlichen Erinnerungsstücke der Überlebenden.
Elzbieta Cajzer, Leiterin der Sammlungen Gedenkstätte Auschwitz:
»Sie haben erst kürzlich beschlossen, diese Gegenstände dem Museum zu spenden, denn nur hier können diese Gegenstände als Geschichtenerzähler dienen. Aber auch aus pragmatischeren Gründen: Privatpersonen sind nicht in der Lage, diese Gegenstände richtig zu erhalten. Natürlich gibt es darunter einige Sachen, die uns Mitarbeiter auf eine sehr persönliche Weise berühren. In dem Moment, in dem die letzten Zeitzeugen verschwunden sind, werden diese Gegenstände deren Geschichten bezeugen. Geschichten von Menschen, die hier in Auschwitz waren. Es werden keine direkten Berichte mehr möglich sein.«
Die Herausforderungen sind komplex. Bei Dokumenten und Papieren geht es um mikrobiologische Schäden, pH-Werte, verblassende Schrift, Beschädigung durch Klebestreifen.
Das Konservierungsteam kämpft nicht nur mit einer riesigen Menge von Gebrauchsgegenständen, sie kämpfen auch mit dem schlechten Zustand. Vieles wurde beschädigt, während der Deportation oder später, als die Nazis versuchten, die Spuren zu vernichten. Wertvolle Dinge beschlagnahmten sie, entweder die Lager-SS persönlich oder sie brachten die Dinge mit den Deportationszügen zurück ins Deutsche Reich.
Bei der Befreiung standen an der Bahnrampe des KZ Auschwitz-Birkenau noch Waggons gefüllt mit geraubten Bettdecken und Kleidung. Die übrig gebliebenen Habseligkeiten sind meist von schlechter Qualität. Aber das ist nicht das einzige Problem.
Aleksandra Papis, Leiterin des Konservierungslabors Gedenkstätte Auschwitz:
»Vor allem gibt es keine wirklichen Lösungen, wenn es um die Konservierung geht. Das ist also eine zusätzliche Herausforderung. Wir sind Pioniere. Was wir tun, wurde bisher kaum von anderen Wissenschaftlern gemacht. Normalerweise verwenden wir zeitgenössische Materialien. Es gibt niemanden, den man fragen kann, wie etwas gemacht werden sollte. Denn wir sind diejenigen, die die ganze Zeit gefragt werden, wie wir etwas gemacht haben oder wie man bestimmte Materialien aufbewahrt, wie man sie sichert.«
Bei der Befreiung fand man im Vernichtungslager zwei Tonnen menschliches Haar. Es befindet sich immer noch in der Ausstellung und verfällt dort mit der Zeit. Ein stiller Ort. An dem aus Respekt vor den Ermordeten nicht gesprochen, fotografiert oder gefilmt werden darf. Die Haare sind Leichenteile der Opfer. Um ihre Menschenwürde zu schützen, hat man beschlossen, dass die Haare als einzige Exponate nicht mehr konserviert werden. Alles andere aber schon – ein unvorstellbarer Aufwand. Alle Konservierungsschritte werden mit Spezialkameras analysiert, dokumentiert und digitalisiert.
Verlässt man das Konservierungslabor im Lagerkomplex Auschwitz 1 und begibt sich nach Auschwitz-Birkenau, kommt man an der sogenannten alten Judenrampe vorbei – auch hier wird gearbeitet – an den ehemaligen Viehwaggons, mit denen die Menschen in den Tod transportiert worden sind.
Hier in Birkenau bekommt die immense Herausforderung für das Konservierungsteam noch eine ganz andere Dimension.
Rafał Pióro, Stellvertretender Direktor Gedenkstätte Auschwitz:
»Die Rettung, der Erhalt der Gedenkstätte ist eine außergewöhnliche Herausforderung, da wir es hier mit einer immensen Größe zu tun haben. Wir sprechen hier von einem riesigen Gelände, das über 190 Hektar groß ist. Wir reden über 150 Gebäude, 300 Ruinen, viele Kilometer Zaun.«
Es ist ganz deutlich zu sehen, wie der Zerfall fortschreitet. Die Baracken wurden auf sumpfigen, feuchten Untergrund errichtet, die bauliche Substanz ist minderwertig. Haltbarkeit war beim Bau des Vernichtungslagers unwichtig. Jetzt gibt der Boden nach, die Wände sacken unter der Last der Dächer ab – der Einsturz droht. Wie erhält man ein Konzentrationslager? Dafür gibt es keinen Masterplan.
Jolanta Banaś-Maciaszczyk, Konservatorin Gedenkstätte Auschwitz:
»Die Konstruktion, die wir hier an der Westwand der Baracke sehen, ist dazu gedacht, die Wand zu begradigen. Das ist ein sehr wichtiger Teil des gesamten Prozesses zur Erhaltung des Gebäudes. Wir tun unser Bestes, um das Gebäude in seine ursprüngliche Form zurückzubringen. So bleiben die Wände im Wesentlichen ohne größere Eingriffe.«
Riesige Hallen schützen die Konservierungsarbeiten. Es wird an zwei Baracken parallel gearbeitet.
So wenig wie möglich verändern, der Grundsatz gilt auch für die Pritschen: Die menschenunwürdigen Schlafplätze der Gefangenen sollen authentisch bleiben.
Nur da, wo es wirklich nötig ist, werden Dinge erneuert. So wie hier bei der Baustruktur. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verlegen alle Bodenklinker exakt in dem Originalmuster.
Jolanta Banaś-Maciaszczyk, Konservatorin Gedenkstätte Auschwitz:
»Unsere Arbeit ist komplex und zeitaufwendig. Die Fundamente nehmen einen Großteil unserer Zeit in Anspruch. Zuerst müssen wir das Historische sichern, so bewahren wir die authentischen Fundamente. Nächste Aufgabe ist das Freilegen der Fundamente. Der letzte Schritt ist die Isolierung, um sie vor Wasser zu schützen, um zu gewährleisten, dass keine Probleme aufgrund von Feuchtigkeit im Gebäude entstehen.«
Das Grauen konservieren, damit es nicht zerfällt und vergessen wird. Hier, wo millionenfaches Leid geschah. Man spürt im Gespräch mit allen im Team, wie hoch die Identifikation mit der Aufgabe ist. Emotional jedoch bleibt es ein Balanceakt – zwischen der notwendigen inneren Distanz und der tagtäglichen Nähe.
Jolanta Banaś-Maciaszczyk, Konservatorin Gedenkstätte Auschwitz:
»Die Arbeit in dem ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz ist aufgrund der Geschichte dieses Ortes sicherlich nicht einfach. Aber jeder, der hier arbeitet, findet seinen eigenen Weg, damit umzugehen. Ich denke, dass es auch unter diesem Aspekt wichtig ist, dass wir während unserer Arbeit immer wieder Spuren verschiedener Personen entdecken. Das ist etwas unglaublich Wertvolles für uns alle hier.«