Illustration: DER SPIEGEL
Markus Deggerich

Familiennewsletter Panzer mit Popel

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, liebe Eltern,

Foto: Narongsak Noinash / EyeEm / Getty Images

unser Jüngster (vier Jahre) saß kürzlich für seine Verhältnisse erstaunlich still am Tisch und starrte auf sein Abendbrot. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte sehr bestimmt: »Ich hasse das Basteln.« Nach einer Sekunde der Irritation fingen alle an, laut zu lachen. Der Zusammenhang wurde dann schnell klar. In der Kita ist gerade die sogenannte »spielzeugfreie Zeit«. Zu Beginn des Jahres wurde gemeinsam mit den Kindern alle Spielsachen verpackt und weggeräumt, sie sollen sich für eine Zeit lang mit ihrer Umwelt und anderen Materialien beschäftigen. Und so sollte er zum nächsten Tag etwas Gebasteltes mitbringen, mit dem er spielen kann. Also bemalte er nach dem Essen noch einen Getränkekarton, wir steckten Weinkorken auf Holzspieße, schoben die durch den Karton und ich dachte: fertig ist das Auto. Er aber sagte stolz: »Sieht aus wie ein Panzer.«

Das verschlug mir kurz den Atem. Ich musste, wieder mal, lernen: Kinder kriegen alles mit. Er kann nicht lesen, er sieht nicht fern, hat keinen Zugang zum Internet. Aber Kinder haben sehr sensible Antennen. Die monatelangen Diskussionen über Panzer gehen auch an seinem Alter nicht vorbei. Die »Zeitenwende« hat diese Woche einen weiteren Wendepunkt erreicht mit der Zusage von deutschen Panzerlieferungen. 

Mein Sohn verarbeitet Dinge oft spielerisch und in Spielen. Er hat, wie ich auch, eine starke introvertierte Seite, kann in sich versunken vor sich hinspielen und mit sich selbst reden, was oft falsch gedeutet wird.  Aber er besitzt auch ein Holzschwert, eine Piratenpistole, ein Plastikgewehr. Unter dem Weihnachtsbaum lagen Pfeil und Bogen, er lässt Autos aufeinander krachen. Aber Panzer? Das fühlte sich anders an. Lass ich ihn mit Panzern spielen und sei es nur so ein selbst gebastelter aus Karton, ein Panzer mit Popel? Meine Antwort lautet: ja.

Verbote und Vermeidung machen die Dinger erst recht attraktiv, ich werde es ohnehin nicht schaffen, sie komplett aus dem Leben der Kinder zu streichen. Dann spielen sie eben beim Nachbarn oder dem Kitafreund damit. Es ist vielleicht die Dosis und die Begleitmusik, die den Unterschied machen kann. Gewalt gehört zur Geschichte (und Gegenwart) der Menschen, leider, das Thema zu ignorieren wäre fatal. Dann lieber kindgerecht darüber reden, Techniken von Deeskalation und Selbstverteidigung einüben, Selbstbewusstsein vermitteln und mit den Ängsten umgehen, die das Reden über und Erfahren von Gewalt in der Kindheit begleiten.

Die Idee hinter dem Familiennewsletter

Einmal die Woche erzählen fünf Mütter und Väter aus ihrem Leben und geben Lesetipps, was für Familien interessant sein könnte. (Wer wir sind, lesen Sie hier.) Schreiben Sie uns gern Ihre Gedanken zum Thema Familie, Ihre kleinen Geschichten aus dem Alltag, Ihre besonderen Momente mit Ihren Kindern! Wir würden uns freuen! Unsere Adresse: familie@spiegel.de 

Es ist fast genau ein Jahr her, dass mich mein Sohn beim Kriegsausbruch in der Ukraine aus der Fassung brachte mit dem Satz: »Papi, müssen wir jetzt alle sterben?« Nach zwei Jahren Corona und einem Jahr Krieg würde ich behaupten: Mein Vierjähriger kann Krise, ungewollt.

Ich persönlich war in meiner Kindheit auf dem Dorf noch von echten Panzern umgeben, weil bei uns auf dem Land im Kalten Krieg regelmäßig Manöver abgehalten wurden: Fasziniert und ehrfürchtig stand ich vor diesen Kolossen. Ich ging auch als Kind schon mit auf die Jagd als Treiber, zog erlegtem Wild das Fell über die Ohren. Mit meinem Vater goss ich im Keller Zinnsoldaten, in meiner Armee aus Plastiksoldaten wurde im Kinderzimmer hundertfach gestorben.

Gleichzeitig wurde ich von meinen Eltern zu Gewaltlosigkeit im christlichen Sinne erzogen, keinem Pazifismus, aber Respekt vor jedem einzelnen Leben und Gewalt nur als allerletzter Option. Genau damit begründete ich dann später als Volljähriger meine Kriegsdienstverweigerung, als ich zur Bundeswehr einberufen werden sollte.


Mein Ältester ist mit 20 Jahren in dem, wie man sagt, wehrfähigen Alter. Da in Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt ist (nicht abgeschafft) wird er (noch) nicht zu einer Entscheidung genötigt wie ich damals. Aber vielleicht marschieren wir seit dieser Woche wieder stärker in diese Richtung, der militärischen Logik und Militarisierung auch unseres Alltags und Denkens. Ich selbst bin unsicher, wie ich mich heute entscheiden würde – auch oder gerade, weil ich mit eigenen Augen gesehen habe, was Krieg anrichtet.

Mein Eindruck ist, dass der emotionale Stress überall zugenommen hat, vor allem in Familien mit Kindern, bei denen, die das Thema eher ignorieren oder verdrängen genauso wie bei jenen, die es zu groß machen. Wie schwer es sein kann, die Emotionen unserer Kinder zu verstehen, auch jenseits von so großen Fragen wie Krieg oder Gewalt, hat meine Kollegin Anna Clauß diese Woche in unserer Familienkolumne geschildert.  

Wie kommen wir ran an die Gefühle unserer Kinder? Durch Angebote, durch indirekte Wege zum Reden, den Gefühlen eine Form und ein Ventil geben. Und sei es nebenbei, zum Beispiel eben beim Basteln (und wenn Sie Basteln hassen wie mein Junior und ehrlicherweise auch ich selbst, will ich Ihnen gern die großartigen Tipps meiner Kollegin Antonia Bauer ans Herz legen mit dem unschlagbaren Titel: Basteln für Menschen, die nicht basteln können).

Oder beim Kochen und Essen. Oder beim Spielen und Sport (auch wenn das Schwimmenlernen immer schwieriger wird). Oder beim Kuscheln zum Einschlafen.  Jeder findet da seine eigenen Momente.

Mein Moment

Die Verlässlichkeit des emotionalen Bandes in Familien zu pflegen, davon bin ich überzeugt, kann durch ein ganzes Leben tragen und darüber hinaus. Es hilft, nicht nur in Krisenzeiten. Unsere Leserin Ulrike W. hat uns dafür ein besonders schönes Beispiel aus ihrem Leben geschildert:

»Unser Sohn ist mittlerweile 44 Jahre alt, wird aber immer unser Kind bleiben. Vor allem in unseren Herzen. Ich habe als Mutter eine ganz besondere Verbindung zu ihm.

Unser Sohn ist beruflich viel unterwegs, bis nach Skandinavien. Er meldet sich grundsätzlich immer, wenn er angekommen ist. Oft spüre ich diesen Zeitpunkt, und kurz darauf meldet er sich über Threema.

Mein Mann ist immer noch sprachlos, wie das funktioniert. Ich sage immer, die Nabelschnur wurde in der Seele nie durchtrennt!«

Erzählen Sie uns von Ihren Ängsten oder auch Freuden mit den Kindern: familie@spiegel.de

Pflegen Sie Ihre emotionale Nabelschnur und kommen Sie gut durch die Woche!

Herzlichst und unbewaffnet
Ihr

Markus Deggerich

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